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Aufruf

Warum Neue Musik anders sein muss

Liebe Leserinnen und Leser,

die Geschichte der Neuen Musik nach dem Zweiten Weltkrieg ist eng verbunden mit der Reaktion auf die Vereinnahmung der Musik durch das nationalsozialistische Regime im sogenannten Dritten Reich.

Während der Herrschaft der Nationalsozialisten wurde Musik politisiert und für ideologische Zwecke missbraucht, sei es durch die Texte vieler Propagandalieder und -hymnen, die nationalistische, antisemitische und rassistische Botschaften enthielten, oder auch durch die Förderung und Inszenierung bestimmter Komponisten und Werke, die als Symbol für die vermeintliche Überlegenheit der «arischen» Kultur galten, wie beispielsweise die Opern von Richard Wagner, die in groß angelegten Festspielen präsentiert wurden. Unter dem Begriff „Entartete Musik“ wurden insbesondere Werke jüdischer Komponisten, Jazzmusik und die atonale Musik der Zweiten Wiener Schule (Arnold Schönberg, Alban Berg, Anton Webern) verboten und verfolgt. Stattdessen propagierten die Nationalsozialisten eine Rückbesinnung auf eine vermeintlich deutsche, als rein und heroisch empfundene Musiktradition und förderten Werke, die diesen ästhetischen und ideologischen Maßstäben entsprachen.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 stand die musikalische Avantgarde vor der Herausforderung, sich von den restriktiven und repressiven Vorgaben des NS-Regimes zu befreien und eine neue, eigenständige musikalische Sprache zu entwickeln. Ziel dieser Bewegung der Neuen Musik war es, sich radikal von der Vergangenheit abzugrenzen und die musikalische Moderne voranzutreiben. Die Komponisten suchten nach neuen Ausdrucksformen und Techniken, um eine universelle, nicht ideologisch vereinnahmbare Musik zu schaffen.

In der unmittelbaren Nachkriegszeit waren die 1946 gegründeten Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik ein wichtiger Knotenpunkt für die Entwicklung und Verbreitung der Neuen Musik. Hier trafen sich Komponisten, Interpreten und Musiktheoretiker aus ganz Europa und den USA, um sich über die neuesten Entwicklungen und Techniken auszutauschen. Namen wie Pierre Boulez, Karlheinz Stockhausen und Luigi Nono wurden in dieser Zeit bekannt und prägten die Neue Musik entscheidend mit. Sie experimentierten mit seriellen Techniken, elektronischer Musik und erweiterten Spieltechniken für traditionelle Instrumente.

Die auf den Prinzipien der Zwölftontechnik Arnold Schönbergs basierende serielle Musik wurde weiterentwickelt und radikalisiert. Sie bot die Möglichkeit, musikalische Struktur und Organisation unabhängig von traditionellen harmonischen und formalen Normen zu gestalten. Dies war nicht nur eine künstlerische, sondern auch eine politische Entscheidung: Eine Musik zu schaffen, die sich einfachen ideologischen Vereinnahmungen entzog und die Komplexität und Vielfalt des modernen Lebens widerspiegelte.

Gleichzeitig entwickelte sich in den USA eine parallele Strömung der Neuen Musik, angeführt von Komponisten wie John Cage, die andere Wege der musikalischen Innovation suchten. Cages Konzept des Zufalls in der Musik und seine experimentellen Ansätze standen im Gegensatz zur strengen Ordnung der seriellen Musik und eröffneten der musikalischen Avantgarde neue Horizonte.

Die Geschichte der Neuen Musik nach dem Zweiten Weltkrieg zeigt eindrucksvoll, wie Musik als Reaktion auf ideologische Vereinnahmung und Unterdrückung entstehen kann. In den unmittelbaren Nachkriegsjahren setzten Komponisten wie Pierre Boulez, Karlheinz Stockhausen und Luigi Nono alles daran, eine neue musikalische Sprache frei von den Zwängen und Einflüssen des Nationalsozialismus zu entwickeln. Diese Bewegung stand für Vielfalt, Komplexität und Unabhängigkeit der Kunst von politischen und ideologischen Einflüssen.

Angesichts aktueller Ereignisse in Deutschland, wie dem Grölen von «Deutschland den Deutschen» zu Party-Musik wird die Dringlichkeit einer reflektierten Auseinandersetzung mit Neuer Musik erneut deutlich. Solche Vorfälle erinnern uns daran, wie leicht Musik für nationalistische und ausgrenzende Zwecke instrumentalisiert werden kann. Sie zeigen, dass der Kampf gegen ideologische Vereinnahmung und für die Freiheit der Kunst nicht nur ein historisches, sondern auch ein hochaktuelles Thema ist.

Die Neue Musik fordert uns auf, wachsam zu bleiben und die Vielfalt und Freiheit musikalischer Ausdrucksformen zu verteidigen. Sie erinnert uns daran, dass Kunst und Kultur wichtige Räume der Reflexion, der Kritik und des Ausdrucks unterschiedlicher Perspektiven sind. Gerade in Zeiten wieder erstarkender nationalistischer Tendenzen ist es umso wichtiger, die Errungenschaften der Neuen Musik zu würdigen und weiterzuführen. Sie steht für die Verweigerung einfacher Antworten und die Anerkennung der Komplexität und Vielfalt unserer Welt.

Die Auseinandersetzung mit der Neuen Musik und ihre Förderung ist somit nicht nur ein Beitrag zur kulturellen Vielfalt, sondern auch ein klares Bekenntnis zu einer offenen, demokratischen Gesellschaft, in der Kunst als freier Raum des Denkens und der Reflexion geschützt und gefördert wird, was politische Maßnahmen wie den Schutz der Kunstfreiheit, die Unterstützung kultureller Vielfalt, die Bereitstellung finanzieller Mittel, Bildungsprogramme zur Neuen Musik sowie die Schaffung von Plattformen für künstlerischen Austausch erfordert. Gerade in Zeiten knapper Kassen, geopolitischer Spannungen und ökologischer Krisen ist es essenziell, diese Prinzipien zu bewahren und zu fördern, um die Werte einer offenen und demokratischen Gesellschaft zu stärken und zu verteidigen.

Der Verein ART14 e.V., der das Projekt trägt und unterstützt, sowie die Konzertreihe ACHTELTON – Werkstatt für Neue Musik stehen für Werte wie Offenheit und Pluralismus, die keinen Platz für nationalistische, rassistische, sexistische und andere ausgrenzende Strömungen lassen.

Am 09. Juni haben wir in Deutschland die Möglichkeit, über die Zusammensetzung des künftigen Europäischen Parlaments mitzubestimmen. Viele mögen diese Wahl für unbedeutend halten. Doch die Richtlinien, die in Brüssel beschlossen werden, haben direkten Einfluss auf die Gesetzgebung in den einzelnen Mitgliedsländern.