Liebe Freundinnen und Freunde der Neuen Musik,
die Welt befindet sich in einem geopolitischen Umbruch, der die Fundamente der internationalen Ordnung erschüttert. Autoritäre Regime gewinnen an Einfluss, revisionistische Mächte stellen das Prinzip territorialer Integrität offen infrage, und selbst liberale Demokratien zeigen zunehmend neoimperiale Tendenzen. In diesem Kontext erscheint der Ruf nach einer stärkeren militärischen Eigenständigkeit Europas als pragmatische Konsequenz – als ein Akt strategischer Selbstbehauptung. Und doch ist es notwendig, diesem sicherheitspolitischen Diskurs eine kulturelle, erkenntnisorientierte und humanistische Dimension zur Seite zu stellen.
Denn was wir derzeit erleben, ist nicht allein ein Rüstungswettlauf im klassischen Sinne, sondern ein kultureller Paradigmenwechsel: eine Verengung des Denkraums auf militärische Logiken, eine Re-Legitimierung des Gewaltpotenzials als zentrale Form kollektiver Handlungsfähigkeit. Diese Entwicklung ist nicht alternativlos – sie ist das Ergebnis politischer Prioritätensetzung, diskursiver Verschiebungen und ökonomischer Interessen.
Krieg, so schrieb einst der Soziologe Norbert Elias, ist nicht nur ein physisches, sondern ein zivilisatorisches Rückfallmoment. Er entzieht sich nicht der Rationalität, aber er instrumentalisiert sie in einer Weise, die Empathie, kulturelles Verstehen und faktenbasierte Lösungsorientierung systematisch an den Rand drängt. In einer Zeit, in der globale Herausforderungen wie Klimakrise, Pandemien, Ressourcenknappheit und gesellschaftliche Spaltung dringender denn je nach Kooperation verlangen, setzt die politische Rhetorik wieder auf Konfrontation, auf Abschreckung, auf Dominanz.
Natürlich: Verteidigungsfähigkeit ist unter den gegebenen Umständen ein rationales Erfordernis. Aber es wäre intellektuell redlich, sich einzugestehen, dass die bloße Fähigkeit zur militärischen Reaktion noch keine tragfähige Zukunftsperspektive bildet. Wenn Gesellschaften beginnen, sich primär über ihre Bedrohungsszenarien und deren militärische Bewältigung zu definieren, droht ein Verlust an kultureller Selbstreflexion und gestalterischer Vision.
Was wir bräuchten – dringender denn je – ist ein Gegenentwurf: eine Utopie der wechselseitigen Verbundenheit, gegründet auf Kunst, Bildung, Wissenschaft und interkultureller Verständigung. Diese Sphären sind nicht dekoratives Beiwerk, sondern das Fundament offener Gesellschaften. Sie eröffnen Möglichkeitsräume jenseits der Gewaltlogik; sie fördern die Fähigkeit, mit Unterschiedlichkeit und Unsicherheit umzugehen, ohne in Angst oder Feindbilder zu verfallen. Sie lehren uns, Widersprüche auszuhalten, andere Perspektiven zuzulassen und komplexe Realitäten nicht vorschnell zu vereinfachen – und ermöglichen so den Aufbau grenzüberschreitender Empathie.
Doch gegenwärtig erleben wir eine Umverteilung symbolischer und materieller Ressourcen – weg von der Idee der kulturellen Kohäsion hin zu einer Reetablierung militärischer Stärke als Leitkategorie politischer Handlungsfähigkeit. Rüstungsetats wachsen, während Kulturinstitutionen um ihre Existenz ringen. Soziale Projekte werden marginalisiert, Wissenschaft unter politischen Druck gesetzt, Bildung ökonomisiert. Die Investitionen in Kanonen verdrängen jene in Köpfe und Herzen.
Die zentrale Frage lautet daher nicht, ob Aufrüstung unter geopolitischen Vorzeichen notwendig sei – sondern ob wir bereit sind, ihr unsere Zukunft zu opfern. Wahre Sicherheit entsteht nicht im Schatten der Waffen, sondern im Licht des Denkens. Sie speist sich aus gerechter Teilhabe, kultureller Lebendigkeit und dem Vertrauen in die Kraft von Argumenten und Erkenntnissen. Eine Gesellschaft, die all dies preisgibt, mag sich verteidigen können – aber sie wird nichts mehr zu verteidigen haben.
Die eigentliche Alternative liegt nicht im Pazifismus, sondern in der Fähigkeit, Verteidigungsbereitschaft mit einer kulturellen Vision zu verbinden. Nicht als Gegensatz, sondern als spannungsreiches Zusammenspiel, in dem politische Klugheit und humanistische Orientierung koexistieren. Die Zukunft gehört nicht denen, die sich am besten schützen – sondern denen, die am meisten zu bieten haben.